40 Jahre Jugendstätte Bellevue

Am gelungenen Jubiläumsanlass im Herbst 2024 erlebten die Gäste, wie sich die Jugendstätte Bellevue im letzten Jahrzehnt fachlich weiterentwickelt hat, was hinter den Konzepten «Traumapädagogik» und «Neue Autorität» steckt – und zeigten sich beeindruckt von der Beziehungsarbeit, die täglich mit Herzblut geleistet wird.

Gelb leuchteten die Sonnenblumen, freundlich und hell. Heimleiterin Uta Arand eröffnete den Jubiläumsakt mit ihrer Freude über die «bunte Gästeschar» im bis zum letzten Stuhl besetzten Festsaal. Vertreten waren unter anderem aktuelle und ehemalige Stiftungsrats- und Betriebskommissionsmitglieder, Vertreter:nnen des Amtes für Soziales, des Bundesamtes für Justiz, der Kindes- und Erwachsenen schutzbehörden, der Berufsbeistandschaften, des Sozialforums Ost, der Fachhochschulen und Höheren Fachschulen, des Verbands Youvita sowie ehemalige und aktuelle Mitarbeitende. Auch Freunde, Bekannte und Verwandte der Mitarbeitenden gehörten zu den Gästen.


Und auch die Jugendlichen, um die es im Bellevue geht, gehörten an dieser 40. Geburtstagsfeier dazu – sie hatten mit den Sozialpädagog:innen Grussworte auf Video vorbereitet. Die offene Wohngruppe etwa liess dafür zwei Stofftiere sprechen:

«Frau Arand isch vor 10 Johr do anecho
Und het vill uf d’Reihe übercho
Ihr sind jetzt da, mir sind deheim,
mir sind am chille, ihr sind im Heim»



Gelächter im Saal. «’Frau Arand’ ist selbstverständlich ein Oberbegriff für alle, die diese Entwicklung initiiert, gefördert und begleitet haben, sowie für das ganze Team hier.», erklärte Uta Arand mit einem Schmunzeln. Mireille Lambelet, Präsidentin der Betriebskommission, erwähnte in ihrem Grusswort die Wichtigkeit von Auffangnetzen, wie es die Jugendstätte Bellevue bietet. Die frühere Staatsanwältin bedankte sich bei den Mitarbeitenden für ihre Hingabe und ihr Herz: «Ihr öffnet den Mädchen ein Fenster mit einer schönen Aussicht. Lassen Sie uns weiterhin an der Vision eines sicheren Ortes arbeiten.»


Wie Salzgärten in der Bretagne

Beatrice Kalbermatter vom Bundesamt für Justiz, stellvertretende Chefin des Fachbereichs Straf- und Massnahmenvollzug und Fachverantwortliche für den Jugendbereich begleitet die Jugendstätte Bellevue schon sehr lange. Sie hob in ihrer Ansprache die kreative Atmosphäre hervor und verglich die Jugendstätte Bellevue mit den Salzgärten in der Bretagne, die sie in den Sommerferien besucht hatte: «Es braucht eine lange sonnige Phase für die Verdunstung, bis man das Fleur de Sel ernten kann. Regen kurz vor der Ernte kann alles zunichtemachen. – So ist es auch im Bellevue: Die jungen Frauen kommen hierher, stärken ihre Ressourcen, aber es können immer wieder unerwartet dicke Regenwolken auftauchen. Ich wünsche den Jugendlichen viel Kraft und lange Zeiten des Sonnenscheins.» Und an das Team gewandt: «Verlieren Sie den Glauben nicht daran, dass hier wunderbare Kristalle verborgen sind.»


Ein schwerer Rucksack

In ihrem Festvortrag ging Uta Arand zunächst auf die Vorgeschichte der 13- bis 18-jährigen jungen Frauen ein. Denn eines haben alle gemeinsam: Sie tragen einen schweren Rucksack. Wenn sie ins Bellevue kommen, zählen bereits fünf oder mehr belastende Lebensereignisse zu ihrer Biografie. Sie erlebten z.B. Vernachlässigung, plötzliche Veränderungen der Betreuungs-/Wohnsituation, körperliche Gewalt, psychische Gewalt und/oder Mobbing. Im Durchschnitt waren die schon in mindestens zwei Heimen. 60 Prozent verbrachten einen stationären Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 58 Prozent hatten drei Schulwechsel. Depressionen, Ängste und/oder oppositioneller Widerstand liess sie durch sämtliche Strukturen fallen.

«Vor zehn Jahren realisierten wir: Mit Partizipation und der Orientierung an Ressourcen allein können wir den Jugendlichen nicht hilfreich sein. Sanktionen verschlimmerten alles noch.», warf die Heimleiterin einen Blick zurück. «Also machten wir uns auf den Weg und schauten: Was gibt es in der Praxis?» Sie wurden fündig.


Uta Arand skizzierte kurz die Konzepte, Methoden, Instrumente und Ansätze, die im Bellevue zur fachlichen Weiterentwicklung führten und bis heute angewendet werden: Traumapädagogik in Verbindung mit der Neuen Autorität, Equals, START NOW, Bündner Standard, Bezugspersonenarbeit, Tandem-Führung, Elternweiterbildung und Elterncoaching. Zur Arbeit mit den Eltern führte sie aus: «Das erste Mal, als die Eltern ins Haus kamen, war herausfordernd. Wir wussten nicht, wie die Eltern uns begegnen würden. Wir wussten nur, dass wir ein Team sein wollen, keine Konkurrenz.» Sie erzählte von berührenden Momenten – wie jenem, als eine Mutter sehr weinte und von den anderen Eltern aufgefangen wurde. «Die Mutter erlebte: ‘Ich bin nicht allein’».


Arbeit mit allen Konzepten

«Wir brauchen alle diese Konzepte, Methoden und Instrumente», betonte Uta Arand und erklärte, wie sie ineinandergreifen und verwies zur Vertiefung auf die Fachausstellung, welche anlässlich des Jubiläums entwickelt wurde.

In zwei Workshops nach Wahl erfuhren die Gäste ganz praktisch anhand von Fallbeispielen wie die genannten Methoden im Alltag und in der Elternarbeit angewandt werden. Und in der Fachausstellung «Ein Jahrzehnt fachliche Entwicklung» wurden die Biografien der jungen Frauen und ihr Verlauf greifbar – mitsamt Vorgeschichten und Auswertung. Auffällig: Alle hatten in ihrer frühen Kindheit emotionale Vernachlässigung erlebt. Manche Biografien erzählten von einer erfreulichen Entwicklung bis hin zu einer Lehrstelle. Andere von den Regenwolken, die Aufgebautes wieder zerstörten.


Keine Schönfärberei
Dr. Claudius Luterbacher, Leiter Amt für Soziales, lobte die Fachausstellung in seinem Grusswort am Nachmittag dafür, dass sie «keine Schönfärberei» betreibe. Nicht immer verlaufe die Entwicklung wie gewünscht. Doch die Jugendstätte Bellevue erschaffe eine gute Perspektive. «Hierhin kommen junge Menschen mit einem Rucksack; hier wird der Rucksack geöffnet, hier wird hereingeschaut, und manchmal erschrickt man dabei. Aber man kann nicht alles wegwerfen, man packt aus und arbeitet damit. Es ist ein Wahrnehmen und Schaffen mit dem, was die Menschen mitbringen.» Wie schon Mireille Lambelet erwähnte er die «gute Aussicht, die das Bellevue jenen bietet, die diese Unterstützung brauchen.»
Die wirklich gute Perspektive sei aber, so Luterbacher: «…, dass hier Menschen arbeiten, die unermüdlich und aus Überzeugung im Einsatz sind, die sich über jeden kleinen Fortschritt freuen und bei Rückschritten nicht das Handtuch werfen.»


Lachen und Aha-Erlebnisse
Beim Wissensquiz mit Siegerehrung füllte sich der Saal mit Lachen, Raunen, Rufen und Applaus. Eine bunte Gästeschar schaute auf einen bunten Tag zurück – mit vielen Aha-Erlebnissen, aktivem Mittun in den Workshops, Genuss beim Mittagessen und der Fachausstellung, die ein ganzes Jahr geöffnet bleibt.


Von Stiftungsrat Christoph Hanselmann gab es ein grosses Dankeschön: «Heute Morgen im Workshop habe ich erlebt, was die Jugendstätte Bellevue ausmacht: Wir wurden emotional abgeholt und man sah, wie viel Fachlichkeit in die Arbeit fliesst – und wie viel Herzblut. Wie sich diese Fachlichkeit entwickelt hat und entwickelt, ist schön zu verfolgen. Ich habe heute wieder gespürt, wie stark der Zusammenhalt der Mitarbeitenden ist und dass sie alle einen Sinn in dem sehen, was sie tun.»


Für den Imagewandel
Dass diese Fachlichkeit über die gelben Mauern hinaus sichtbar wird, hat sich Uta Arand auf die Fahne geschrieben. «Heimpädagogik hat sich – wie die Schule und Psychiatrie auch – gewandelt und entwickelt. Trotzdem bleibt die unrühmliche Vergangenheit daran haften wie eine klebrige Masse», sagte sie in ihrem Schlusswort. Das liege an den fehlenden Berührungspunkten. «Jede und jeder war selbst in der Schule, bleibt über eigene Kinder, Enkel, Nichten, Neffen usw. in Bezug dazu und erfährt so, quasi nebenbei, wie sich Schule entwickelt hat bzw. entwickelt. Bei Heimen ist das nicht so.»

Mit der Ausstellung, dem Angebot der Workshops sowie Führungen, die von allen interessierten Personen je nach Interesse zusammengestellt und «gebucht» werden können, wolle die Jugendstätte Bellevue die Heimerziehung ein Stück weit mehr in die Gesellschaft tragen. Gleichzeitig sei die Fachausstellung hilfreich beim Einarbeiten von neuen Mitarbeitenden.

Uta Arand bedankte sich bei allen, die das Bellevue in den vergangenen zehn Jahren unterstützten und erwähnte dabei besonders die Zusammenarbeit mit der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel (Marc Schmid und Team sowie Christina Stadler und Team).

Der Weg, den das Bellevue vor zehn Jahren erfolgreich eingeschlagen hat, geht mit Methoden im Gepäck und Zuversicht weiter. Und vor allem mit Alltagsheld:innen (Mitarbeitende sowie Jugendliche und deren Eltern), die sich den Herausforderungen stellen.

Present für die Gäste:
AlltagsHeld*innen
Kräutersalz